Prof. Dr. Ferdinand Ullrich
Katalog Kunsthalle Recklinghausen und Württembergischer Kunstverein Stuttgart, 1997

Über die Möglichkeit von Malerei und die Gemälde Jörg Eberhards

Im ausgehenden Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit wendet sich das Interesse der diesseitigen Welt zu.
Der Wechsel von der theozentrischen zur anthropozentischen Weltsicht wird anschaulich in Bildern. Das Bildinteresse gilt der Vielfalt der optischen Erscheinungen. Die genaue Naturbeobachtung wird zur Grundlage des Bilderschaffens, wobei die Zentralperspektive es ermöglicht, die Überfülle der optischen Erscheinungen zu ordnen und sie in Beziehung zu setzen. Die Zentralperspektive löst die Bedeutungsperspektive ab, so wie die detaillierte Dinglichkeit das bloße Zeichen ablöst. Mit der Erforschung der Welt wird sie gleichzeitig unübersichtlich und entgleitet dem Sinn suchenden Individuum.
Das industrialisierte 19. Jahrhundert schließlich schafft ein Bildmedium, das diese Entwicklung auf einen Höhepunkt bringt: die Fotografie. Nun scheint sich der Traum zu erfüllen: die Welt so darzustellen, wie sie ist. Die Fotografie leistet dabei Beachtliches: Detailtreue, korrekte Zentralperspektive, exakte Lichtführung. Die individuellen, menschlichen Fehlerquellen sind ausgeschaltet.
Die Malerei als Abbildungsmedium dagegen ist überholt. Sie steht nicht mehr an der Spitze des (technischen) Fortschritts. Sie wendet sich sehr bewusst anderen Realitäten zu. Der Impressionismus versucht, auf gleichsam wissenschaftlicher Ebene zu konkurrieren, indem er das optische Prinzip radikalisiert, die äußere Wirklichkeit so darzustellen, wie sie sich auf der Netzhaut zeigt. Aber die Betonung des flüchtigen Gesamteindrucks bedeutet auch Verzicht auf Detailgenauigkeit und wissenschaftliche Perspektive.
Auch Expressionismus und Surrealismus agieren noch auf der Ebene des gegenständlichen Bildes, aber Dinglichkeit und Perspektive werden ganz in den Dienst innerer Erregung oder imaginärer Traumwelten gestellt. Vollends verweigert schließlich der Konstruktivismus die Bindung an die gegenständlich optische Welt. Das gemalte Bild ist hier ein Äquivalent für die letzten Dinge, während die Fotografie die mehr oder weniger zufällige Erscheinung der äußeren Wirklichkeit dokumentiert.

Seit der Erfindung der Fotografie wird die Mechanisierung der Bildproduktion beklagt, die Mühelosigkeit der Herstellung und ihre darauf begründete Seelenlosigkeit. Einherging die zunehmende massenhafte Bildproduktion.Heute wird eine neue Qualität in dieser Entwicklung deutlich, die unmittelbar mit der Massenproduktion zusammenhängt: das materielle Verschwinden des Bildes, das virtuelle Bild des Computerzeitalters. Seit Menschengedenken waren wir daran gewöhnt, dass Bilder zunächst eine ganz reale, d. h., eine materielle Existenz haben und dass sie allein im Materiellen ein Erscheinendes repräsentieren. Die Imagination war immer etwas, das sich am real Vorhandenen entzündete, an den sinnlich optischen Reizen genauso wie an der Oberflächenstruktur, dem Format, der Rahmung, der Wirkung bei unterschiedlichem Licht. Nun stellen wir fest, dass die Bilder unserer Welt verfügbarer sind als je zuvor, aber gleichzeitig allein in elektronischer Form vorhanden sind. Nicht wirklich sind sie handhabbar. Ihre Massenhaftigkeit bedingt ihre elektronische, virtuelle Form. Allein so sind sie noch einigermaßen zu archivieren und damit verfügbar. Es entsteht eine neue Qualität der Welt der Bilder, die ein Bild der Welt geben. Einerseits schaffen Bilder ein immer perfekteres Bild der äußeren Wirklichkeit, andererseits verflüchtigt sich dieses Bild zunehmend. Das Bild war immer auch eine Vergewisserung von Welt und Wirklichkeit, Bilder, die kaum noch gesehen werden, können diese Identifikation nicht mehr leisten.
Auch durch die Möglichkeit der immer perfekteren Manipulation von fotografischen Bildern geht diese Gewissheit nun ganz vordergründig verloren. Ununterscheidbar wird das perfekte Abbild der Wirklichkeit von der perfekten Manipulation der Wirklichkeit im Bild.

Angesichts einer solchen Situation der Bilder stellt sich die Frage nach Rolle und Aufgabe von Malerei als ein Medium, in dem ein Weltbild sich manifestiert. Walter Benjamin hat das, was das Kunstwerk vor den technisch reproduzierten Bildern auszeichnet, als Aura bezeichnet. Die Einzigartigkeit, das hier und jetzt des Kunstwerks, bestimmt seine auratische Wirkung. Malerei ist uns immer ein wirkliches Gegenüber, geschaffen von einem anderen Individuum. Aura kann aber darüber hinaus nur etwas haben, was optische Wirklichkeit nicht nur bestätigt, sondern überschreitet. Dieser Überschuss, die Nichtkongruenz zur optischen Wirklichkeit, hebt das malerische Bild vor jedem mechanischen Abbild hervor, daraus resultiert seine zeitlose Gültigkeit.
Technisch gesehen ist Malerei eine archaische Ausdrucksform: unzeitgemäß und rückschrittlich. Die Produktionsweise ist extrem langsam und modernen hoffnungslos unterlegen. Sie ist durch und durch antitechnisch. Leinwand, Farbe, Pinsel, Malmittel - eine einfache, primitive Rezeptur. Die Probleme beginnen dann, wenn die Rezeptur versagt: die Menge der Farbe, die Platzierung der Farbflächen, die Reihenfolge der Pinselstriche, die Ordnung der Fläche. Malerei entsteht erst in einem Prozess der Metamorphose Die mit Farbe bemalte Leinwand wird dabei zur Projektionsfläche von Imagination. Das, was eine farbige Fläche zu Malerei macht, ist die Bildmagie, das, was sich der diskursiven Begreifbarkeit entzieht.
Es gibt eine bestimmte Beziehung von Bildermachen und Bildersehen. So scheint die Dauer der Bildproduktion in Relation zur Dauer der möglichen Bildrezeption zu stehen. Schnell gemachte Bilder sind auch schneller zu rezipieren. Ein Gemälde dagegen braucht sowohl in der Produktion wie in der Rezeption Zeit und Mühe. Man kann sogar sagen, dass hinter dem schnellen Bildermachen in unserer Zeit das Bildersehen völlig unwichtig und uninteressant wird. Viele Bilder werden gemacht, aber nicht mehr gesehen. Allein der Augenblick des Machens und das Bewusstsein, ein Bild gemacht zu haben, ist von Bedeutung. Wirkliches Bildermachen hat aber etwas mit intensivem Sehen und Erleben zu tun, was sich im Idealfall weiterträgt, im Bild zu etwas Eigenem und Selbständigen entwickelt. In einer solchen Situation bekommen die Bilder archaischer Produktionsweise eine ganz eigene Bedeutung. Sie verhalten sich subversiv zu den Tendenzen der Zeit.

Jörg Eberhards gemalte Bilder stehen mitten in dieser Situation. Die Entwicklung der Malerei und die Situation der Bilder sind reflektiert. Seine Gemälde bewahren eine Referenz zur außerbildlichen Wirklichkeit Und sie zeigen einen Bildraum, in dem kunsthistorische Erfahrungen perspektivischer Konstruktionen verarbeitet sind.
Malerei verlangt im produktiven Vollzug permanent eine hohe Konzentration. jedes Detail wird allein durch die Hand gesetzt und in seiner Eigenschaft bestimmt. Nichts geschieht von selbst, wie in der mechanischen Bildproduktion. Von daher lohnt eine Betrachtung der in den Bildraum gesetzten und dort bewahrten Dinge. Einige Bilder tragen Titel wie: Depot oder Lager. Insgesamt wirken die Bilder auf den ersten Blick wie Aufbewahrungsorte für Dinge. Nach einem etwas undurchschaubaren, jedenfalls nicht archivarischen System sind sie dort geordnet. Es ist ein ästhetisches „Aufbewahrungssystem“, in dem die Dinge ihren Ort finden. Ort und Ding verschmelzen schließlich zu einer geschlossenen Einheit.
Computer, Fotoapparat, elektrische Schreibmaschine, Telefon - zunächst sind es die modernen Dinge, die ins Auge fallen. Im Medium der Malerei wird den Dingen Bildwürdigkeit gegeben, die das Verschwinden von Unmittelbarkeit symbolisieren. Und wenn Jörg Eberhard die optischen Resterscheinungen unseres elektronisch-virtuellen Zeitalters bewahrt, so auch deshalb, weil sich auch darin, fern aller Funktion, ein Bedürfnis nach sinnlicher Greifbarkeit, Dauer und Präsenz ausdrückt.
Daneben gibt es eher zeitlose Dinge: Tisch, Stuhl, Bett, wobei einige dieser Gegenstände durchaus identifizierbar sind: der Freischwinger von Mart Stam, der Rielveld-Stuhl, die Wagenfeld-Lampe. Aber auch diese Gegenstände der Designgeschichte werden behandelt wie Archetypen, zeitlose Dinge. Sie werden im Bild zu Zeichen überhöht, als seien sie in unser Unterbewusstsein längst eingegangen (und sie sind es wohl auch) — „Moderne Klassiker“ sagt man heute.
Monstranz, Kerze, Kelch, Vase präsentieren eher die alten Dinge. Sie sind mit Geschichte und Mythos aufgeladen. Ihre lkonographie ist komplex und kompliziert. Und doch reihen sie sich in die Dinge wie selbstverständlich ein. Keine Sonderrolle wird ihnen gewährt. In gleichem Maße sind sie in die Bildstruktur und den Bildraum eingebunden wie die anderen Dinge.
Aber diese Kategorisierung löst sich auf, wenn deutlich wird, dass all diese Dinge, reduziert auf ihren formal-ästhetischen Bestand, gleich sind. Und deshalb werden die Dinge auf ihre Form reduziert, auf genauere Differenzierung wird verzichtet. Das Ding wird zur zweidimensionalen Schablone. Allein in der bildräumlichen Integration erfahren diese Schablonen eine dramatische Dynamik. Schablone und Perspektive überzeichnen, radikalisieren und untergraben als Gegensatzpaar damit Wahrnehmungsgewissheiten. Fläche und Raum, Isolation und Integration bestimmen gleichermaßen die bildliche Existenz der Dinge.
Eine eigentümliche Spannung entsteht zwischen der lakonischen Gegenständlichkeit und dem dramatischen Auftritt im heroischen Raum. Bildergalerie, oben, 1988 kann dabei als Programmbild betrachtet werden. Eine in überzogener Perspektive dargestellte Bildergalerie enthält nur monochrome, blinde Bilder. Diese hier aufgereihten Gemälde sind lediglich Leerflächen für potentielle Bilder, die erst noch entstehen müssen. Sie werden sich in einer Welt der Perspektive behaupten müssen. Diese in die Perspektive gestürzten Flächen sind ohnehin ein Charakteristikum von Eberhards Werken.
Gemessen an den Möglichkeiten der wissenschaftlichen Zentralperspektive sind die Perspektivkonstruktionen in Eberhards Bildern eher primitiv, scheinbar hilflose, ungelenke Versuche, das Problem des Raumes in der Fläche zu lösen, ohne dem bloßen Illusionismus zu verfallen. So scheint manches Bild unentschlossen zwischen Raum und Fläche zu verharren. Dieser Zwischenzustand ist aber von heilsamer Erkenntnis. Das Bild ist nur ein Bild und doch ist es mit uns und unserem sinnlichen Vermögen und den Erfahrungen mit außerbildlicher Alltagswirklichkeit und deren massenhafter Abbildung unabweislich verknüpft. Immer sind wir als Betrachter gezwungen, die Perspektive zu wechseln. Zentralperspektive wechselt mit Parallelperspektive (Galerie, Lager, Bilder, 1990/92). Dreidimensionale Dinge klappen in die Fläche einer überzogenen Flucht (Flaschenvitrine, gelb, 1990). Dann wiederum, völlig unvermittelt, stören schwebende Reifen und Ringe den so wohlgeordneten und übersichtlichen Raum (Hotel (in den Bergen], 1990) und bilden eine davon unabhängige Perspektive. So bestätigen und verstören die Bilder zugleich: Raum ist Fläche, Fläche ist Raum.
Als bloßer Schattenriss, als flächige Projektion dreidimensionaler Dinge und räumlicher Situationen, präsentieren sich andere Gemälde und die Aquarelle. Wohlgeordnet, unter Vermeidung von gegenseitiger Störung, sind Dinge und Formen in der absoluten Bildfläche nebeneinandergesetzt. Die malerisch-formale Struktur schafft Eintracht. Ihre Widerspenstigkeit ist domestiziert in der kleinen Form und doch vorhanden. Die Ordnung ist trügerisch und die Balance durchaus prekär. Allein die Beziehung von formaler Struktur und Dinglichkeit lässt offen, was nun im nächsten Augenblick die Oberhand gewinnen wird. Ist das Ding eine Funktion der Struktur oder die Struktur mitsamt der farbigen Grundstimmung eine Funktion des Dings? Beides scheint gleichermaßen möglich.
Gerade diese Bildauffassung hält eine riskante Spannung zwischen Bild und Ding, zwischen bloßer Malerei und Gegenstandsreferenz. S
chrift taucht in den Bildern auf und gibt ihnen einen Ort, eine vorgebliche Eindeutigkeit: Hotel, Bilder (Hotel [in den Bergen], 1990) oder auch Ziffern: 0.10, 34 (Galerie, Lager, Bilder, 1990/92), als könnten diese befriedigende Bilderklärungen liefern. Der Eindruck trügt. Der Begriff „Bilder“ verweist auf das eine Bild, in dem dieser Begriff auftaucht und auch auf die vielen Bilder mit den unterschiedlichen Perspektiven in diesem einen Bild. Die verwirrenden Projektionen werden dadurch in keiner Weise aufgelöst. Sie bleiben ein Störelement unserer Wahrnehmungsgewohnheiten, sowohl was die äußere Wirklichkeit wie die Abbilder dieser Wirklichkeit angeht. Bild, Ding, Begriff — alles gerinnt zu einem Ganzen als Beispiel einer Welt, in der die Kategorien nicht unterschieden sind, als All-Einheit. Symbol dafür ist die seltsam sich entwickelnde Ornamentik.
Flächenbindung ist die Voraussetzung von ornamentaler, endloser Ganzheit, in das sich die Dinge schicksalhaft fügen (Geborene, Ungeborene, 1997), (Füllen und Halten, 1997).

Die Malerei Jörg Eberhards entspringt unzweifelhaft einem durchdachten Konzept. Aber sie ist keine Konzeptmalerei oder reine Aufklärungsmalerei. Komposition, Ponderation, Farbe, Form reflektieren jenseits aller Konzeption auf Anmutung. Besonders die Aquarelle machen die besonderen Anmutungsqualitäten deutlich: Papierqualität, Farbstimmung, Format, Transparenz. Die Bilder mitsamt ihren Räumen sind in eine Atmosphäre gesetzt, die ihrerseits die Ganzheit des Bildes bestimmen und es als Einheit konstituieren. So ist das Licht nicht als Dargestelltes auf der Ebene des lllusionismus vorhanden — Räume und Dinge erscheinen daher merkwürdig lichtlos‚ sondern als Grundlage des Bildes schon vor aller Malerei gegeben. Diese muss das Licht nicht erschaffen, es ist schon vorhanden als ein absoluter Seinsgrund.
Die Erhabenheit der Malerei wird so bewahrt. Intellektualität und sinnliche Evidenz verschaffen ihr eine Distanz und damit Würde. Sie macht sich nicht anheischig einer billigen Erwartung und verzichtet auf deren schnelle Befriedigung. Vielmehr behauptet sie ihre Autonomie, gerade, indem sie sich an den Dingen unserer Welt entzündet und ihre Nähe nicht meidet, sondern sie sehr bewusst sucht. Malerei überwindet Theorie und entfaltet sich gerade deshalb als Erkenntnismedium.
So ist auch die Verweigerung an die Modernität nur eine relative. Technik, Fortschritt, Zivilisation sind Thema dieser Bilder. Aber nicht die Affirmation, sondern die Subversivität, der kritische Impuls bindet sie zurück und stellt die einfachen Fragen nach dem Sinn solcherart Fortschritt. Immer noch ist es die Malerei, die Fragen zu stellen in der Lage ist. Technischer Fortschritt verschleiert zivilisatorische Dekadenz, diese Malerei öffnet den Blick für die letzten Dinge im Medium der bildkompositorischen Ordnung der einfachen Dinge. Jörg Eberhard setzt das Gesehene in nicht gesehene Beziehungen. Diese Malerei beharrt auf der bewussten Trennung von Kunst und Wirklichkeit. Sie entwickelt eine eigene Wirklichkeit der bildlichen Vorstellung, in der die außerbildlichen Dinge auf ihren Platz gesetzt werden. Dieser Platz wird nicht durch ihre Funktion, sondern durch ihre ästhetische Form bestimmt. Auch die Oberfläche des Bildes gehört zur Welt der Erscheinungen. Aber ein solcherart komplex konstituiertes Bild gestattet einen Blick hinter die Welt der Erscheinung auf das, was sie bewegt und ihr zugrunde liegt. So schlägt der Anachronismus der Malerei, ihre konservative Bild- und Weltauffassung in eine zeitgemäße, jedenfalls aber zeitnotwendige Erkenntnis über den Zustand unserer Welt um.